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Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

Marie Ebner-Eschenbach

Marie von Ebner-Eschenbach

Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte

Der Kreisphysikus

I

Doktor Nathanael Rosenzweig hatte eine entbehrungsreiche Jugend durchlebt. Was genießen heißt, erfuhr er in der schönsten Zeit des Daseins nicht. Heute hungern und dabei gerade genug erwerben, um morgen weiter hungern zu können; nachts um zwei Uhr sich zusammenrollen wie ein Igel und in der Ecke der Kellerstube den harten, traumlosen Schlaf der Erschöpfung schlafen; erwachen bei dem Gewimmer der alten Großmutter, die sich entschuldigte, daß sie noch nicht gestorben sei, daß sie ihm noch zur Last fallen müsse; forteilen, um lehrend die Möglichkeit zu erringen, selbst zu lernen – so ging es jahraus, jahrein. Erwerben, der Inbegriff all seines Dichtens und Trachtens, Geld erwerben, Kenntnisse, Gunst, hauptsächlich die seiner Professoren (Nathanael studierte Medizin an der Universität in Krakau), erwerben um jeden Preis, den der Ehrlichkeit einzig ausgenommen, erwerben und nur ja nichts umsonst hergeben, nicht den kleinsten Teil der eigenen Kraft; keine mitleidige Regung kennen, keine hemmende Rücksicht.

Seine Großmutter und er, er und seine Großmutter machten für ihn die Welt aus, und wie wenn seine Welt klein war, so waren seine Ziele nahe. Das erste und am schwersten Errungene bestand in dem Ersparnisse so vieler Gulden, daß er und die alte Frau nicht sofort verhungern mußten, wenn ein unvorhergesehenes Unglück seine Tätigkeit für einige Zeit lähmen sollte. Als er es erreicht hatte, da fühlte er sich als Kapitalist und tröstete die Großmutter bei ihrer allmorgendlichen Klage mit den Worten:

„Lebe du nur ruhig fort, jetzt kann uns nicht so leicht mehr etwas geschehen.“

Sein rastloser FleiГџ verminderte sich nach dem ersten Erfolge nicht, er wuchs vielmehr mit der Kraft dessen, der ihn anwandte.

Nathanael wurde ein starker Mann; seine kreuzspinnenartigen Extremitäten kräftigten sich zu muskulösen Armen und Beinen, die Brust wurde breit, die Gestalt bekam etwas Reckenhaftes trotz ihrer Magerkeit. Sein Auftreten war so sicher, sein Blick ruhig und klar, seine Rede so bestimmt, daß schon seine ersten Patienten – gar kleine Leute – meinten:

„Das ist ein gescheiter Herr Doktor!“

Seine grüne Jugend sah ihm niemand an; er hatte sich zu lange in Gesellschaft der Sorge befunden, und wenn er sie auch bändigte und unterwarf, – daß sie heimlich an ihm zu nagen fortfuhr, konnte er nicht verhindern.

Allmählich kam er in Besitz eines Rufes, eines bescheidenen, aber eines guten, und dem verdankte er es auch, daß er mit dreißig Jahren schon, von Amts wegen, als Physikus nach einem der westlichen Kreise versetzt wurde. Ein sicheres Brot von nun an, ein reichliches sogar nach Nathanaels Begriffen. Er hätte bei der Einrichtung seiner Wohnung auf dem Ring der Kreishauptstadt nicht so ängstlich zu knickern gebraucht, aber er fürchtete, übermütig zu werden, wie die meisten Armen, wenn sie plötzlich zu Geld kommen, und gab den Handwerkern wenig zu verdienen. Immer des Wortes eingedenk: „Die Axt im Hause erspart den Zimmermann“, schaffte er allerlei Werkzeuge an und ließ sich's nicht verdrießen, den Tischler und den Schlosser gleichfalls zu ersparen. Und wenn es auch wirklich ein Graus war, wie die Sachen aussahen, den Doktor beirrte das nicht; der Schönheitssinn war bei ihm entweder nicht vorhanden oder nicht ausgebildet.

Als die Großmutter, steinalt und unbeweglich, ihre Stube nicht mehr zu verlassen vermochte, sich aber doch noch herzlich sehnte nach dem Anblick einer grünen Staude, einer blühenden Blume, da wurde der Herr Doktor ein Gärtner, und bald sahen die Fenster seiner Wohnung aus wie die eines Treibhauses.

Die Greisin litt manchmal an Rückfällen in ihre ehemalige Schwachherzigkeit, doch äußerte sich diese jetzt in andrer Weise.

„Wenn ich nur nicht zu früh sterbe,“ sagte die Neunzigjährige. „Ein Begräbnis ist gar zu kostspielig!“

Nathanael tröstete sie liebreich:

„Stirb ja