Der Zauberberg. Volume 2
Томас Манн
Thomas Mann – legendärer deutscher Schriftsteller, Essayist, Meister des epischen Romans, Literatur-Nobelpreisträger 1929.
"Der Zauberberg" ist ein Roman, der virtuos die Welt in einer Tuberkulose-Heilstätte in den Schweizer Alpen schildert. Seine Bewohner sind genötigt, sich hier jahrelang aufzuhalten. Der Kontakt zur Außenwelt erfolgt nur über seltene Briefe und Telegramme. Hier zieht sich die Zeit unmerklich hin, Leben und Tod verlieren ihren Sinn, die kleinsten Nuancen der zwischenmenschlichen Beziehungen erlangen dagegen eine schmerzhafte Schärfe und Bedeutung.
Thomas Mann
Der Zauberberg. Volume 2
В© T8RUGRAM, 2018
В© Original, 2018
Sechstes Kapitel
Veränderungen
Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, – wesenlos und allmächtig. Ei-ne Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkop-pelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide iden-tisch? Nur zugefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffen-heit, sie "zeitigt". Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht damals, hier nicht dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mißt, kreis-läufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Still-stand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich be-ständig im Jetzt, das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstren-gung nicht vorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu "denken", – in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismäßige Redu-zierung auf null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmen des Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Ent-fernung, Bewegung, Veränderung, auch nur das Vorhandensein begrenzter Körper im All? Das frage du nur immerhin!
Hans Castorp fragte so und ähnlich in seinem Hirn, das gleich bei seiner Ankunft hier oben zu solchen Indiskretionen und Quengeleien sich aufgelegt gezeigt hatte und durch eine schlimme, aber gewaltige Lust, die er seitdem gebüßt, vielleicht besonders dafür geschärft und zum Querulieren dreist gemacht worden war. Er fragte sich selbst danach und den guten Joachim und das seit undenklichen Zeiten dick verschneite Tal, obgleich er ja von keiner dieser Stellen irgend etwas einer Antwort Ähn-liches zu gewärtigen hatte, – schwer zu sagen, von welcher am wenigsten. Sich selbst legte er solche Fragen eben nur vor, weil er keine Antwort darauf wußte. Joachim seinerseits war zur Teilnahme daran fast gar nicht zu gewinnen, da er, wie Hans Castorp es eines Abends auf französisch gesagt hatte, an nichts dachte als daran, im Flachlande Soldat zu sein und mit der bald sich nähernden, bald foppend wieder ins Weite schwindenden Hoffnung darauf in einem nachgerade erbitterten Kampfe lag, den durch einen Gewaltstreich zu beenden er sich neuerdings geneigt zeigte. Ja, der gute, geduldige, rechtliche und so ganz auf Dienstlichkeit und Disziplin gestellte Joachim unterlag em-pörerischen Anwandlungen, er begehrte auf gegen die "Gaffky-Skala", jenes Untersuchungssystem, wonach im Laboratorium drunten, oder dem "Labor", wie man gewöhnlich sagte, der Grad erkundet und bezeichnet wurde, in welchem ein Patient mit Bazillen behaftet war: ob diese nur ganz vereinzelt oder un-zählbar massenhaft in dem analysierten Probestoff sich vorfan-den, das bestimmte die Höhe der Gaffky-Nummer, und auf diese eben kam alles an. Denn völlig untrüglich drückte sie die Genesungschance aus, mit der i